Nächste Haltestelle: Barrierefreiheit!

Alles was man wissen muss

Wo hält mein Bus oder meine S-Bahn und wann muss ich wieder aussteigen? Für die mehr als 550.000 sehbehinderten, 80.000 gehörlosen und 17,1 Millionen schwerhörigen Menschen in Deutschland ist das täglich eine große Herausforderung. Wir von Innovation Natives haben in mehreren Projekten Funktionen einer App entwickelt, die den Zielgruppen eine vereinfachte Nutzung von Bussen und Bahnen ermöglicht. Und so funktioniert`s: Die Zielgruppen werden zum einen mit den Informationen versorgt, die auch den sehenden bzw. hörenden Fahrgäste zur Verfügung stehen. Zum anderen haben wir zusätzliche Assistenzsysteme erarbeitet, mit denen zum Beispiel der richtige Bus einfacher gefunden werden kann.

Der Entwicklungsprozess bestand aus Iterationsschleifen, in denen wir eng mit den Zielgruppen im Austausch standen. Dabei haben wir in explorativen Interviews die Anforderungen an eine barrierefreie Fahrgastkommunikation ermittelt und daraus mögliche Lösungen und Features einer App entwickelt. Die neuen Funktionen haben wir nach dem Lean Development Cycle (Build-measure-Learn) mit den Zielgruppen besprochen, überprüft und weiterentwickelt. Auf diese Weise haben wir uns Schritt für Schritt einer sinnvollen Lösung genähert. Folgende Learnings haben wir aus dem Prozess mitgenommen, die auch für künftige Projekte essenziell sind:

  1. Dialog statt Schreibtischwissen
    Wir müssen bei einem solchen Thema, bei dem wir die Lebensrealität von blinden oder gehörgeschädigten Menschen nicht uneingeschränkt nachvollziehen können, in den intensiven Dialog mit den Zielgruppen gehen und immer wieder Feedback einholen. Andernfalls treffen wir die Annahmen, auf die wir unsere Produkte stützen, immer nur aus der Perspektive von uneingeschränkt sehenden bzw. hörenden Personen. Es lässt sich daher kein Teil unserer Produktentwicklung am Schreibtisch konzipieren. In der Konsequenz bedeutet das: Wir müssen uns in den Kontext begeben, das heißt an die Haltestellen und in die Fahrzeuge, um uns mit den Zielgruppen über ihre Bedürfnisse und Wünsche direkt vor Ort auszutauschen.
  2. Schnelle Fortschritte
    Wir müssen mit unseren Projekten schnell einen Nutzen für die Anwender erzielen. Eine rasche Weiterentwicklung ist durch ein schrittweises Vorgehen mit aufeinander aufbauenden Lösungen möglich. So erreichen wir einen hohen Beteiligungsgrad und einen spürbaren Fortschritt für unserer Zielgruppen. Konkret gesprochen: Alle vier Wochen standen wir mit unseren Zielgruppen wieder an den Haltestellen und haben dort neue Lösungen besprochen und überprüft.
  3. Neutraler Vermittler
    Wir müssen als Dienstleister die Behindertenverbände und die Verkehrsunternehmen an einen Tisch und sie auf unserer Plattform miteinander ins Gespräch bringen. Wir können als neutrale Instanz häufig einfacher vermitteln, als es im direkten Austausch möglich wäre. Das hilft auch dabei, Verzögerungen vorzubeugen sowie Lösungen konsequent und nachhaltig umzusetzen.
  4. Externe Expertise
    Wir müssen die richtigen Leute miteinander vernetzen. Es ist weder realistisch noch wünschenswert, alle Impulse und sämtliche Expertise bei uns zu bündeln, die für eine Produktentwicklung im Bereich des barrierefreien ÖPNV nötig sind. Deshalb identifizieren wir externe Expertise und beziehen sie mit ein. So stehen wir beispielsweise mit Mobilitätstrainer:innen, Gebärdensprachendolmetscher:innen  und Barrierefreiheitsexpert:innen in engem Austausch.
  5. Quick Wins
    Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Es gibt viele sinnvolle und auch einfache Lösungen, um Barrierefreiheit im ÖPNV zu ermöglichen. Es ist wichtig, genau diese “Quick Wins” zu pflegen und nachhaltig anzubieten. Denn unsere Zielgruppen empfinden es als besonders ärgerlich, wenn  Services eingestellt werden mit der Begründung von zu geringem Traffic auf einer App oder Website. Auch wenn die absolute Nutzungszahl solcher Services aus der Perspektive des betreibenden Unternehmens vielleicht niedrig erscheinen mag, machen sie doch für jede:n einzelne:n Betroffene:n einen großen Unterschied.
  6. Passende Features
    Wir müssen in der Sprache unserer Zielgruppen kommunizieren. Viele von Geburt an gehörlose Menschen bezeichnen die deutsche Gebärdensprache (DGS) und nicht die deutsche Lautsprache als ihre Muttersprache. Dementsprechend können wir für eine verständlichere Fahrgastkommunikation sorgen, wenn wir die DGS schon bei der Entwicklung mitdenken und für die Vermittlung bestimmter Informationen als Alternative zur Schriftsprache anbieten. Ähnliches gilt für Screenreader (z.B. Voice Over), die von blinden und sehbehinderten Personen auf ihren Smartphones genutzt werden. Wenn wir also neue Features entwickeln, müssen wir uns daher auch immer fragen, inwiefern sich diese auch auditiv, taktil oder in Gebärdensprache umsetzen lassen.

Weites Feld

Im Rahmen der App-Entwicklung haben wir uns intensiv mit den Bedürfnissen von blinden, sehbehinderten, gehörlosen und höreingeschränkten Fahrgästen im ÖPNV beschäftigt. In den Tiefeninterviews sind wir auf viele weitere Bereiche gestoßen, in denen großer Nachholbedarf für sinnvolle Produkte und Services besteht. Es gibt also noch viel zu tun auf dem Weg zur Barrierefreiheit.